Von Irene Kober (Stand 1998)
Seit 1990 gibt es eine etablierte Frauenforschung an den Universitäten in der Türkei, die von Studentinnen rasch durchgesetzt werden konnte.
Die Frauenforschung ermöglicht es, ein differenziertes historisches Bewusstsein vor allem zur osmanischen Frauengeschichte zu erlangen und die kemalistische Frauen-Jubelliteratur zum Teil zu überwinden. Eine historisch forschende Frauenforscherin braucht jedoch für die osmanische Zeit Sprachkenntnisse in Osmanisch, d. h. sie muss die mit dem Arabischen und Persischen verwandte Schrift erlernen und sie braucht einen alten Wortschatz. Aufgrund der kemalistischen Schriftumstellung gab es sowohl einen Bruch in der staatlichen Tradition als auch einen Schnitt im Geschichtsbewusstsein von Frauengeschichte, da heute nur wenige die osmanische Schrift lesen können.
Erst wissenschaftlich bemühte Frauenforscherinnen bringen die osmanische Frauenbewegung wieder zum Vorschein. Es steht noch viel zu entdecken an, so z. B. die Frauen-Geschichtsschreibung der islamischen Zeit vor der Einflussnahme des Westens. Die Schriftstellerin Fatma Aliye wusste noch von 100 Professorinnen im Rahmen islamischer Institutionen, die in dieser Zeit des Mittelalters und der Orden – ähnlich wie in Europa – unterrichtet hätten.
Das Osmanische Reich umfasste eine reichhaltige Frauenkultur, die mit der europäischen Frauenkultur vor der Hexenverfolgung vergleichbar ist, der aber nicht durch eine Hexenverfolgung der Garaus gemacht wurde, sondern durch die schleichende Kolonialisierung der Europäer und Europäerinnen seit dem 15. Jahrhundert.
Die Haremskultur des Sultanspalastes ist am ehesten ein Begriff; weniger bekannt ist, dass es viele Frauen gab, die arbeiteten und den Handel dominierten. In dem Katalog "Neuntausend Jahre Frauen von Anatolien" heißt es, dass im 16. und 17. Jahrhundert Frauen den Textilbereich beherrschten. In der für ihre Seidenproduktion noch heute bekannten Stadt Bursa besaßen die Hälfte von 300 Seidenspinnereien-Werkstätten Frauen. Frauen hatten eine wichtige Stellung in der Frauenheilkunde und Hebammenkunst. Händlerinnen, die von Haus zu Haus gingen ("Hausiererinnen") waren weit verbreitet. Sie schlichteten auch Streitigkeiten zwischen Frau und Mann – ein Beruf mit vielen Funktionen. Jüdische und armenische Händlerinnen blieben mit der Zeit in dem Gewerbe übrig, weil der Islam zunehmend das Frauenleben rigider regelte.
Kemalistische Autoren und Autorinnen wie Üçüncü (1993) verwendeten die Darstellung der Frau in osmanischer Zeit, um auf die vielen Nachteile des Islams einzugehen, und dann die vorislamische Zeit und die Emanzipation der Frau im Kemalismus umso positiver herauszustellen.
Parallel zur europäischen Frauenbewegungsentwicklung im 19. Jahrhundert entfaltete sich eine rege Frauenbewegung im 19. Jahrhundert. Sie bemühte sich, die islamische Ungleichheit, die Rechtslosigkeit und Ungerechtigkeit für osmanische Frauen nach dem Vorbild europäischer Errungenschaften aufzuheben.
Einher ging diese Bewegung mit den Tanzimat-Reformen seit 1839, der Rechts- und Verwaltungsreform nach europäischem Vorbild. Diese Reformen waren die Folge der Stagnation des Osmanischen Reiches, in der das Reich allmählich in politische und ökonomische Abhängigkeit der westlichen Länder (besonders England, Frankreich und dann Deutschland) geriet. Die Türkei übernahm die bürgerlich-kapitalistischen Errungenschaften der Produktion und Technik, des Rechts- und Verwaltungswesens und besonders der Bildung und Erziehung aus den führenden kapitalistischen Ländern Europas. Als das Abhängigkeitsverhältnis des Osmanischen Reiches durch Kriegsführung und hohe Verschuldung immer stärker wurde, übten die westlichen Staaten dahingehend Druck aus, die Reformen fortzusetzen.
1876 erreichte der Tanzimat seinen Höhepunkt und errichtete mit einer neuen Verfassung eine konstitutionelle Monarchie. Die osmanische Feudalgesellschaft wurde langsam in eine bürgerlich kapitalistische Gesellschaft umgebaut, ohne den Monarchen abzuschaffen.
Die Tanzimat-Reform brachte eine neue Heiratsverordnung, schaffte den Sklavenhandel ab und führte ein neues Vererbungsgesetz ein.
1862 wurde die erste Mädchenmittelschule gegründet, 1869 eine obligatorische Schule für Mädchen und 1870 die erste Frau zum Direktor ernannt. Intellektuelle in Zeitungen und Zeitschriften fingen an, sich mit der sogenannten Frauenfrage zu beschäftigen.
Zwischen 1868 und den 1920er Jahren des 20 Jahrhunderts gab es um die 40 Frauenzeitschriften, die von Frauenvereinen herausgegeben wurden.
Mitte des 19. Jahrhunderts setzte allgemein eine rege Zeitungs- und Pressekultur ein, die auf bürgerliche Autonomie und Abschaffung des Sultanats zuarbeiteten. Fast zeitgleich beteiligten sich sofort Frauen mit ihren Belangen.
1868 begannen Frauen in der Beilage Muhadarat in der von Männern herausgegebene Zeitschrift "Terakki" ("Fortschritt") zu schreiben. Die Frauenzeitschrift "Aile" ("Familie") hatte die erste eigenständige Frauenredaktion. Die erste Zeitschrift in Frauenhand war "Şükufezar", die im Jahr 1886 erschien. 1896 kam die Zeitung "Hanımlara Mahsus Gazete" ("Zeitung speziell für Frauen") unter Beteiligung der bekannten osmanischen Schriftstellerin Fatma Aliye heraus, die mit 600 Nummern 12 Jahre erscheinen sollte.
Die bekannteste und progressivste Frauenzeitung war "Kadınlar Dünyası" ("Frauenwelt"), die von 1913 bis 1921 mit 200 Nummern durchhielt. Sie war Presseorgan des Vereins zur Verteidigung der Rechte der osmanischen Frauen.